Ausgabe 3: Tiger Girl von Jakob Lass

Es ist eine altbekannte Diskussion: Der deutsche Film kann nichts. Sie brandet immer wieder auf, wenn ein neuer Film von Schweighöfer, Schweiger und Co. in den Lichtspielhäusern anläuft. Tatsächlich ist die Lage unweit schlimmer, wenn es zu solchen Filmen kommt; es sollte besser heißen: Der deutsche Film will nichts. Denn viel zu oft fehlt es gänzlich an Ambition. Und während man seinen wohlmeinenden Verwandten nur ein freundliches Lächeln schenkt, wenn sie einem wieder von den bewegenden Stunden erzählen, die sie mit „Honig im Kopf“ verbrachten, sehnt man sich insgeheim vielmehr nach den positiven Ausreißern, die man hin und wieder auf der großen Leinwand sehen kann. Dabei geht es gar nicht einmal um die großen Ausnahmen à la „Viktoria“ oder „Toni Erdmann“; nein, es geht im Grunde um Filme, die eine eigene Handschrift erkennen lassen, die die deutschen Wurzeln nicht durch eine amerikanisierte Einheitsästhetik zu kaschieren versuchen; Filme, die dem Altbekannten etwas Neues hinzufügen. „24 Wochen“ von Anne Zohra war so ein Film, der sich der altbekannten Problematik viel zu holzschnittartiger deutscher Dialoge zwar schwerlich erwehren konnte, allerdings mit einer bemerkenswerten Dringlichkeit die Befangenheit und moralischen Abgründe einer problematischen Schwangerschaft zu diskutieren vermochte. Auch die Literaturverfilmung „Die Mitte der Welt“ von Jakob M. Erwa konnte dem deutschen Coming of Age-Genre einen unikalen Stempel aufdrücken, indem die Heteronormativität unserer Welt gänzlich ignoriert und die Komplexität der Liebe aufgezeigt wurde, ohne sich gängigen Kategorien bedienen zu müssen. Beide Filme beweisen, dass gute Unterhaltung auch im deutschen Kino möglich sein kann, wenn nur ein eigener Ansatz verfolgt wird.

„Fuck Dogma“

An dieser Stelle kommt Jakob Lass‘ „Tiger Girl“ ins Spiel. Lass, der 2013 mit „Love Steaks“ aufhorchen ließ, arbeitet anders als viele seiner Kollegen. Fogma (Fuck Dogma) nennt sich diese Arbeitsweise, angelehnt an die Dogma-Bewegung aus dem Jahr 1995 um die beiden dänischen Ausnahmeregisseure Thomas Vinterberg und Lars von Trier. Während die Skandinavier vor allem das Artifizielle des Filmes ablehnten und mit dem Verzicht auf Requisiten, nachträglich eingefügte Musik und Spezialeffekte einerseits ihren Anspruch, wie Filme zu sein haben, manifestierten, sich andererseits aber auch bewusst von der Entwicklung Hollywoods und seiner Nachahmer distanzierten, wählt Lass fast 20 Jahre später einen anderen Ansatz. „Love Steaks“, Lass‘ zweiter Spielfilm, der auf dem Münchener Filmfest 2013 entdeckt und mehrfach ausgezeichnet wurde, unterliegt dem Fogma-Konzept. Er und sein Team lassen dort zum Beispiel verlauten, dass „Reichtum in der Reduktion“ liege, was dann doch einen Vergleich mit den Meisterregisseuren aus Dänemark erlaubt. Allerdings ist diese Reduktion durchaus vielseitig zu verstehen und mag insbesondere auf die Drehbucharbeit verweisen. Fogma-Filme verstehen sich als Synergie aus Drehbuch-, Improvisations- und Dokumentarfilm. In ihnen soll sich das Narrativ-Stringente, das Frische sowie das Authentische verbinden. An den Eckpunkten Drehbuch, Improvisation und Dokumentation lässt sich exemplarisch herausarbeiten, nach welchem Credo hier vorgegangen wird. Das Drehbuch diene als „Skelett“, so Lass, was bedeute, dass es Leerstellen im Skript gibt, die die Darsteller vor der Kamera intuitiv füllen.

An „Tiger Girl“ lässt sich in diesem Stil eine deutliche Handschrift wiedererkennen. Der dritte Spielfilm des geborenen Müncheners Lass ist in Berlin angesiedelt und stellt zwei Mädchen ins Zentrum der Geschichte. Hier die unscheinbare, bisweilen hilflos erscheinende Margarete (Maria Dragus), dort die impulsive, anarchistische Tiger (Ella Rumpf). Als Tiger sie aus einer brenzligen Situation – inklusive U-Bahnhof, schmierigen Typen und Baseballschläger – befreit, wirkt das fast wie eine Initialzündung für Margarete, die fortan, frisch durch Tiger auf den Namen Vanilla umgetauft, immer mehr Gefallen findet am Leben mit einem moralischen Kompass, dessen Nadel unzuverlässig nie zur Ruhe findet. Margarete, die sich ursprünglich für die Polizei beworben hatte, jedoch an der praktischen Prüfung scheiterte, ist zu diesem Zeitpunkt in der Ausbildung zu einer Sicherheitsbeamtin – ein Karrierezweig, der sich durch Hierarchiegefüge, Disziplin und Obrigkeitshörigkeit definiert. Das stellt sich, spätestens ab dem Zeitpunkt, da sie als Vanilla durch das Leben streift, als denkbar ungeeigneter Karriereweg heraus.

Alter, Ego!

„Tiger Girl“ bedient sich dann einer alten Trope der Erzählgeschichte, wonach eine Figur innerhalb der Handlung ein Alter Ego entwickelt, um all das zu tun, was die altbekannte Figur nicht kann – sei es aus Furcht vor strafrechtlichen oder gesellschaftspolitischen Repressalien, Scham und/oder aufgrund einer wenig ausgeprägten Charakterfestigkeit. Eines der bekanntesten Beispiele der Kinogeschichte ist sicher jenes Tyler Durdens, das Alter Ego des Protagonisten in David Finchers „Fight Club“. Hier haben wir es jedoch mit einer Schizophrenie zu tun, was dem Charakter in gewisser Weise die Verantwortung für seine Taten nimmt. Beispiele für ein bewusstes Zurückgreifen auf eine zweite, radikale Identität gibt es dennoch zuhauf.

In der Literatur ist sicher Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ zu nennen, ein Drama, das die Frage aufwirft, ob ein moralisches Leben im Kapitalismus überhaupt möglich ist. Nur durch das resolute, profitorientierte Alter Ego Shui Ta, das die Geschäfte mit harter Hand führt, gelingt es der jungen Shen Te, ihren Tabakladen aufrecht zu erhalten. Damit einher geht, dass die Protagonistin durch die Entscheidung pro Alter Ego eine Unterteilung zwischen Gut und Böse konstruiert, das die Mitbürger, auf der Suche nach eindeutigen Rollenverteilungen, bereitwillig annehmen.

Und dann ist da natürlich auch das junge, prominente Beispiel „Toni Erdmann“ von Maren Ade, ein Film, in dem Vater Winfried den Charakter des Toni Erdmann erfindet, um die Beziehung zu seiner entfremdeten Tochter zu retten.

Nun ist es allerdings nicht die titelgebende Tiger, die eine zweite Persönlichkeit ausbildet. Vielmehr steht die Entwicklung von Margarete zu Vanilla im Vordergrund. Diese wird als Mädchen eingeführt, der es an Durchsetzungsfähigkeit mangelt. Sie lässt sich auf den offensichtlichen Schwachkopf von der Polizei ein, an den sie sich von der Polizeiaufnahmeprüfung erinnert. Sie erstarrt, als sie in der U-Bahn von einer Bande Jungen belästigt wird. Es wirkt fast so, als müsse sie (von Tiger) gerettet werden. Was der Film dann allerdings erzählt, ist ebenso radikal wie schwer erträglich. Durch das Treffen auf Tiger und die beginnende Freundschaft mit ihr beginnt ein fundamentaler Sinneswandel, der einen die Figur zunehmend nicht wiedererkennen lässt. Beinah, so scheint es, hat sich etwas Größeres, Unbändiges in ihr geweckt, das nun nicht mehr unter der Oberfläche versteckt werden kann.

Schmerzhafter Realismus

„Viel zu deutsch“, „Und da wundern sich alle wieso die Kinder kleine Missgeburten werden“, „Um Assis zu sehen muss ich nur raus gehen“ – so und so ähnlich ist es unter einem Trailer zum Film bei Youtube zu lesen. Besonders solche Kommentare sind interessant zu lesen, da sie, durch die Anonymität geschützt, vermutlich aufrichtige Meinungen à la „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ aussprechen. Es mutet schon höchst seltsam an, dass ein Film dafür kritisiert wird, deutsch zu sein; es gar als Schimpfwort verstanden wird. Dabei ist das Entgegengesetzte meist ein Grund dafür, dass deutsche Filme nicht gelingen wollen – sie versuchen, Schauplätze zu anonymisieren und die Ästhetik zu amerikanisieren und wirken somit nur umso mehr wie das billige Rolex-Plagiat, das man stolz über die polnische Grenze schmuggelt. Hinzu wirkt die Sprache durch die penible Aussprache zu oft zu sauber, die Dialoge gestelzt. Damit verlieren die Schauspieler bereits eine ganze Dimension ihrer Ausdrucksfähigkeit.

Darüber hinaus mögen die Einwände, der Film zeige nur den Werteverfall, den man jederzeit auf der Straße konstatieren könne, vielleicht sogar gut gemeint sein. Den Kommentator*innen entgeht hier allerdings, dass dem Film durch seine Medialität eine Metaebene zugrunde liegt, die projiziert und eben auch spiegelt. In dieser Argumentation wird nicht zwischen Realität und Abbildung unterschieden.

Andererseits möchte ich mich nicht als Advokat dieses Filmes verstehen, nicht zuletzt, weil er durchaus kritisch gesehen werden sollte. Über weite Strecken kann man sich nicht des Eindruckes erwehren, als gefalle sich der Film zu sehr in seiner anarchistischen Haltung und verliere darüber hinaus sein Rückgrat. Ein solches ist allerdings wichtig, um die Bindung zur Audienz nicht zu verlieren. Dass das nicht mit einer laut propagierten Moral der Geschichte verbunden sein muss, bewies Harmony Korine bereits 2012 mit „Spring Breakers“, ein Film, dem es durch den stilisierten, kaum unterbrochenen Exzess gelang, das Geschehen auf der Leinwand zu brechen. In „Tiger Girl“ gelingt das nicht. Dem evozierten realistische Ton wird nur in der allerletzten Szene eine neue Deutungsebene hinzugefügt, die allerdings all das bis dahin Gesehene untergräbt. Die mit dem Fogma-Ansatz verbundenen Entscheidungen, zwischen professionellen und Laienschauspielern zu wechseln, Dialoge zu improvisieren und sich die Kamera wie einen Saufkumpan auf Augenhöhe zum Komplizen zu machen, lassen all die Geschehnisse, die sich durch Margaretes Transformation hin zu Vanilla entwickeln, nur noch schmerzhafter wirken. Tatsächlich ist es nicht zu hochgegriffen, wenn an dieser Stelle bemerkt wird, dass zahlreiche Szenen, in denen Tiger und insbesondere Vanilla nach der Prämisse „Ich nehme mir, was ich will“ durch Berlin ziehen, an der Grenze des Erträglichen kratzen.

Frisch, wild, unreif

All die Ansätze, die „Tiger Girl“ so besonders machen – die Sprache, die dank der Improvisationen vor Leben sprüht mit ihren Redewendungen, Zögern, Verhasplern; das Ablehnen der Autoritäten, insbesondere zu sehen in Margaretes Ausbildung zur Sicherheitsbeamtin; die Frauenfreundschaft als wesentlicher Kern der Geschichte, eine Prämisse, die dieser Tage, man denke nur an Elena Ferrantes „Meine geniale Freundin“-Tetralogie, deren Bände die internationalen Bestsellerlisten dominieren, Konjunktur feiert; das Ablehnen eines typisch weiblichen Charaktervorbilds – all diese positiven Elemente wollen sich schlussendlich nicht zu einem organischen Ganzen verbinden. Jakob Lass‘ dritter Film wirkt tatsächlich mehr wie ein Erstlingswerk, dem es an Weitsicht und klarer Vision fehlt. Sehenswert, wie all diese schönen Zahnräder nur bedingt ineinandergreifen, ist das jedoch allemal. Denn, wie Lass selbst sagt: „man kann sich auch mal trauen, auf die Fresse zu fliegen“. Ein Ansatz, von dem man sich wünschte, dass auch andere deutsche Filmemacher ihn beherzigten.

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