Berlinale, Tag 2: Im Schatten des Elefanten

Als ich zur gleichen Zeit wie am Vortag vor dem Akkreditierten-Counter aufschlage, muss ich mich schon ein gutes Stück weiter hinten einreihen. Viele, die gestern im Zuge des großen Andrangs Abstriche in ihrer Programmplanung machen mussten, wollen dies heute wohl um jeden Preis verhindern. Davon ab gehöre ich verhältnismäßig immer noch zu den frühen Wurmfängern, die ich außerhalb des Festivalbetriebes nicht ausstehen kann.

Mango-Papaya-Curry

Schon kurz nach neun erreiche ich das Delphi Lux am Zoo, um mir Helene Hegemanns Axolotl Overkill anzusehen, das für zehn Uhr angesetzt ist. Es bleibt also Zeit, Ullrich einen Besuch abzustatten. Ullrich ist ein legendärer Supermarkt direkt am Bahnhof – der Eingangsbereich Hort flatulenter Großstadttauben und übertrunkener Obdachloser – und regelmäßig Anlaufpunkt all jener um den lokalen Jobmarkt besorgten Bürger, die einzig aus diesem Grund nicht auf ihre Sonntagseinkäufe verzichten wollen. Für mich kommt dabei der Klassiker des Low-Budget-Frühstücks heraus – Brötchen vom Supermarkt-Backstand und ein gutes Glas Brotaufstrich, in diesem Fall Mango-Papaya-Curry (zu empfehlen). Der Film selbst war dann nicht der große Wurf; ohnehin hatte ich vor dem Screening eher noch die Plagiats-Diskussion im Kopf, die die Feuilletons bei Erscheinen des Buches 2010 aufwirbelte und die zum Erscheinen des Filmes im Vorjahr noch einmal ausgerollt wurde, angesiedelt irgendwo zwischen Empörung und Schulterzucken. Hegemann hatte sich ihrerzeit (dieser Begriff ist eine inventio meinerseits) sehr lapidar zum Thema Urheberrecht geäußert, als ans Licht kam, dass Teile ihres Romans ungekennzeichnete Zitate waren.

Axolotl spielt im Berlin der Gegenwart und zeichnet – unter anderem – eine moderne Familie des Bildungsbürgertums, die in ihrer Dysfunktionalität der sozialen Verwahrlosung entgegentaumelt. Inmitten des Ganzen ist die 16-jährige Mifti, an der alles nur so vorbeizieht. Gelingen Hegemann immer wieder gelungene Einzelszenen (Die Schlussszene zeigt, Spoiler, Mifti, irgendwo auf dem Land, mit dem Handy nach Netz suchend), so verbinden sie sich dann eben nicht zu einem Bild, das größer ist als die Summe seiner Teile. Im Anschluss ist Regisseurin Hegemann dann auch zum Q&A anwesend. Eine Frau höheren Semesters hinter mir empört sich dann auch recht schnell darüber, wie viel denn im Film geraucht werde. Man sieht: Es sind die wirklich wichtigen Themen, die Jahr für Jahr durch die Berlinale ein Forum erhalten.

Berlinale nach Tag 2 Tickets
Da Axolotl Overkill in der Rubrik Lola at Berlinale an den Start ging, gab es dafür leider kein physisches Ticket. Und ja, schon Blogs aus den 00er-Jahren hatten bessere Beitragsbilder.

Um 15 Uhr finde ich mich im Arsenal ein, das Arthouse-Kino unter den Arthouse-Kinos in Berlin. Hier werde ich meiner Naivität überführt, gehe ich im Vorfeld doch davon aus, dass sich kaum jemand einen fast zweistündigen japanischen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1985 ansehen wollen wird. Doch weit gefehlt, Saal 1 ist rappelvoll, mehrfach muss eine der Berlinale-Koordinatorinnen durch die Sitzreihen schreiten, um noch freie Plätze für die letzten Besucher/innen ausfindig zu machen. Yama – Attack to Attack handelt von der Situation der Tagelöhner und Einwanderer im Japan der 1980er Jahre, die einem schonungslosen und bisweilen das Leben fordernden Kampf um soziale Gerechtigkeit führen. Regisseur Mitsuo Sato, der während des Drehs ermordet wird, und Co-Regisseur Kyoichi Yamaoka, dem selbiges Schicksal nach Filmveröffentlichung ereilt, sind nur die bekanntesten Opfer institutioneller Korruption und eines grassierenden Rassismus.

Das Filmteam lenkt unsere Aufmerksamkeit im 4x3Format darauf, wie immigrierte Koreaner jahrelang sklavisch als Minenarbeiter missbraucht werden, wir begleiten sich bildende Gewerkschaften, die wiederholt Großunternehmer zur Rede stellen und lautstark Arbeitsrechte und höhere Bezahlungen fordern und lernen mehr über das Sozialsystem Japans zu dieser Zeit, so etwa, dass jenen Tagelöhnern, denen es gelingt, bis zum September genug Stempel der Behörden zu sammeln, eine Art „Weihnachtsbonus“ zugestanden wird. Allerdings, so wird deutlich, ist dieser Bonus nicht mehr als überlebensnotwendig, da zwischen Oktober und Februar aufgrund der Witterung kaum Arbeit zu finden sei. Und viele kommen nicht auf die erforderliche Anzahl an Stempeln. Was mit all jenen passiert zeigt sich dann, als die Kamera Sozialarbeiter begleitet, die durch die Gegend ziehen und Menschen ohne Obdach heißen Reis anbieten. Herzzerreißend.

Die Wurzel allen Übels

Der Höhepunkt des Tages ereilt mich dann um 19 Uhr mit An Elephant Sitting Still, der erste und einzige Film des Chinesen Hu Bo, der zuvor als Schriftsteller tätig war. Dieser hatte sich bedauerlicherweise im Vorjahr mit 29 Jahren das Leben genommen. In seinem Debüt und leider auch einzigen Film entwickelt er über fast vier Stunden eine Geschichte, die um ihre vier Hauptfiguren kreist und ihre Einzelschicksale in seltsame Relationen zueinander führt. Bo wählt für seine Geschichte kalte, matte Farbtöne und lange Einstellungen, die die elegische Tonalität der Narration unterstreichen. Verhandelt werden die Umstände  des älteren Herrn Wang, den die Familie gern in ein Pflegeheim schicken möchte, während auf der Gegenseite die noch zur Schule gehenden Bu und Ling und der mehrere Jahre ältere Cheng allesamt Ereignisse auslösen, die sie nur zu gern rückgängig machen würden.

Auf eine faszinierende Weise wird hier gezeigt, wie mittelgroße Probleme bis große Katastrophen in die Leben dieser Figuren treten. Fragen kommen auf und spiegeln sich implizit in den Blicken. Irgendwann gibt es dann kein Halten mehr, Bu fragt sich, was er denn schon für einen Nutzen für die Welt bringe. Ling und Cheng beladen dagegen die Menschen, die ihnen am meisten am Herzen liegen, mit Vorwürfen. Sie suhlen sich mit einem Höchstmaß an Selbstmitleid in ihrer Opferrolle; der Gedanke, sie selbst könnten für ihre Misere Verantwortung tragen, verspricht nur unerträglichen Schmerz. Die Atmosphäre ist währenddessen furchtbar dicht, von Beginn an wird deutlich gemacht, dass es diese und nur diese vier Charaktere sind, die in den Fokus gerückt werden. Die Kamera nimmt meist die Perspektive der Mitsicht ein, unsere Charaktere in aller Schärfe, während ihre Umwelt verschwommen bleibt. Wenn unsere Hauptfiguren aufeinandertreffen, gewinnt das Bild also automatisch an Schärfe.

Als der Abspann sich dem Ende neigt, betreten ein ausführender Produzent und die Mutter des verstorbenen Regisseurs Bo für ein Q&A die Bühne. Interessanterweise wird hier preisgegeben, dass das Sound-Mastering noch nicht final bearbeitet sei, darauf müsse man sich noch bis zur chinesischen Premiere gedulden. Die Frage, ob angesichts der immensen Laufzeit auch noch die Schere im Schnittraum angesetzt werde, wird allerdings entschieden abgewehrt. Verständlich, will man doch dem Vermächtnis Bos in keiner Weise unrecht tun. Wenn der Fall anders gelagert wäre, wenn wir es also mit einem mittelmäßigen oder gar schlechten Film zu tun hätten, wäre es natürlich problematisch, die Kunst dem schlechten Gewissen zu opfern, so nachvollziehbar das auch ist. Doch glücklicherweise müssen wir uns mit dieser Frage an dieser Stelle nicht auseinandersetzen. Bos Elephant ist über jeden Zweifel erhaben.

Seid auch beim nächsten Mal wieder dabei, wenn ich den ganzen Bums hier mal etwas zu stauchen suche, weil ich ansonsten vermutlich niemals Tag 11 erreichen werde.

 

Hinterlasse einen Kommentar